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Suhrkamp Verlag: Umschaltspiel

März 2021: Schalke 04 befindet sich derzeit auf seinem absoluten sportlichen Tiefpunkt, der Abstiegskampf scheint verloren. Der FC Bayern ist auf dem Weg zur 31. Deutschen Fußball-Meisterschaft.
Vor 50 Jahren sah es anders aus: Schalke 04 kämpfte gegen den FC Bayern um die Meisterschale, aber auch um seinen Ruf, denn Schalke war in den größten Skandal der Bundesliga verwickelt: Insgesamt floss im Abstiegskampf der Saison 71/72 über eine halbe Million Bestechungsgeld.

Der größte Skandal der deutschen Bundesliga ist Ausgangspunkt des Buches „71/72 – Die Saison der Träumer“. Bernd M. Beyer, der bereits mit Biografie über Helmut Schön – ausgezeichnet als Fußballbuch des Jahres 2017 – einen hervorragenden Einblick nicht nur in das Leben von Helmut Schön, sondern auch in die Lebenswelt der damaligen Zeit gezeichnet hat, verknüpft in seinem neuen Buch auf interessante Weise das außergewöhnliche Fußballgeschehen in der Saison 1971/72 mit den gesellschaftlichen Umbrüchen. Es vollzog sich ein Wandel, der bis heute nachwirkt.

Die chronologische Struktur des Buches ist angepasst an den Ablauf der Saison 1971/72 und wirft abwechselnd einen Blick auf wichtige Fußballereignisse und das entsprechende gesellschaftspolitische Zeitgeschehen.

Es war eine Zeit zunehmender Individualität und Selbstbestimmung, u. a. fanden die ersten Schwulen- und Lesbendemos statt und im Juni 1971 bekannten sich im "Stern" 374 Frauen dazu, abgetrieben zu haben. Die langen Haare waren bei den Jugendlichen anfangs ein Zeichen der Unabhängigkeit.

Gleichzeitig entstand in der Fußballsaison 1971/72 die erste echte Profigeneration, die zugleich auch bis heute eine der talentiertesten war. Beyer zeigt diesen kulturellen Wandel im Fußball bei zwei Spielern. Paul Breitner, der als linker Rebell galt, aber den Verbleib bei den Bayern von der finanziellen Hilfe für ein Häuschen abhängig machte und Günther Netzer, das langmähnige Genie. Es gab damals viel Diskussionen um lange Haare, die Soldaten der Bundeswehr mussten Haarnetze tragen. Günther Netzer verzichtete darauf und lief mit wehenden Haaren den gegnerischen Teams davon. Der belgische Journalist Rene Marien beschreibt Netzer beim Spiel Mönchengladbach gegen Bayern München so: “Er lief wie ein junger Gott mit langen blonden Haaren über den Rasen, schnell und elegant...” Netzer war auch einer der ersten Spieler, der sich den Luxus des Besitzes eines Ferraris leistete und eine eigene Diskothek betrieb. Die Zeit der Pop-Fußballstars hatte begonnen.

Während wir heute noch nicht wissen, ob die EM 2021 tatsächlich stattfinden wird, war die damalige EM ein Teil der Saison der Träume: Helmut Schön nennt den Triumphzug durch die Europameisterschaft seine “Traummonate”. Der Sieg des Viertelfinalspiels in Wembley gegen England, bei dem Bundestrainer Schön auch die jungen Spieler Uli Hoeneß und Paul Breitner integrierte, gilt bei vielen Fußballfans als einer der Höhepunkte Fußball-Deutschlands.

Das Finale Deutschland gegen Russland bei der Europameisterschaft 1972 wurde von der SZ als „traumhaft schön“ betitelt.

Interessant war, dass der Europameistertitel weder die Medien noch die deutsche Öffentlichkeit vom Hocker riss. Es gab „keinen Bundeskanzler in der Umkleidekabine und auch keinen großen Bahnhof (nicht einmal ein kleiner) für die Heimkehrer.” Auch ein großer Unterschied zur heutigen Fußballwelt.

Gleichzeitig tat sich politisch sehr viel, was die Öffentlichkeit mehr beschäftigte, besonders die Entwicklung der Baader-Meinhof-Bande zur RAF. Anfangs sympathisierten viele der Linken mit der RAF als Subkultur. Dazu gehörte auch Rio Reiser, dessen musikalische Entwicklung im Buch besondere Beachtung findet. Mit zunehmender Gewalt der RAF schwand jedoch die Sympathie.

Bayern München gewann die Saison 1971/72 in einem grandiosen Finale gegen den direkten Verfolger Schalke 04. Bayerns Manager Robert Schwan legte damals den Grundstein nicht nur für den sportlichen Erfolg der Bayern. Der damalige Spieler Uli Hoeneß setzte als junger Manager den erfolgreichen Weg fort und machte Bayern zu dem auch wirtschaftlich erfolgreichsten Bundesligaclub Deutschlands.

Ein böses Erwachen aus einem tollen Traumspiel – das wohl beste Spiel für lange Zeit - erlebte Borussia Mönchengladbach beim Europapokal der Landesmeister gegen Inter Mailand, das sie mit 7 zu 1 gewannen. Die erste Tragik war, dass dieses Spiel einem großen Fernsehpublikum vorenthalten wurde, da der ARD der Preis Preis inkl. 11 Prozent Mwst. zu hoch war und die zweite Tragik war, dass das Spiel annulliert und nachgeholt wurde. Grund war der legendäre “Dosenwurf”, der den Spieler Boninsegna traf. Das Nachholspiel verlor Borussia Mönchengladbach, dafür gewannen sie aber insbesondere bei der Jugend viele Fans.

Am Tag des Nachholspiels erhielt Bundeskanzler Willy Brandt für seine Ostpolitik den Friedensnobelpreis.

Beyer ist mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen. Er hat es geschafft, nicht nur ein Buch über den Fußball der legendären Saison 1971/72 zu schreiben, sondern auch die faszinierende Zeit des Umbruchs und Neubeginns in der Gesellschaft lesenswert darzustellen.
Es gibt jede Menge interessante, wichtige und auch unterhaltsame Geschichten, die bei einigen Lesern sicher Erinnerungen wachrufen werden und bei jüngeren Lesern vielleicht zu Aha-Momenten (nicht zu verwechseln mit unseren aktuellen AHA-Regeln) führen.

Bernd-M. Beyer
71/72 – Die Saison der Träumer
Die Werkstatt Verlag
ISBN 978 3 7307 0540 7
22 Euro

Copyright Cover: Verlag Die Werkstatt

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